Warum Barrierefreiheit nicht „sexy“ ist oder Was geschieht eigentlich, wenn ..?
Der größte, zeitaufwendigste, aber auch wichtigste Teil der Arbeit guter Designer besteht in der Suche nach Antworten auf eher unangenehme Fragen. Wie etwa: „Was, wenn etwas nicht nach Plan funktioniert?“
Stühle können unter den Sitzenden zusammenbrechen. Das teuerste Auto kann einmal ein Rad verlieren. Und die aufwendigst entworfene Website kann sich plötzlich in einer Umgebung befinden, die bestimmte Technologien nicht unterstützt. Für diese Fälle sollten Entwickler und Designer bereits vor der Markteinführung Lösungen haben. Diese zu finden ist Teil des Entwicklungsprozesses.
Unter den und für die besten aller denkbaren Bedingungen einen Gegenstand oder eine Website zu entwerfen, ist keine Aufgabe, die besonderes Talent erfordert. Es ist, wie man so sagt, keine Kunst.
Die wahren Herausforderungen ergeben sich erst durch etwaige Einschränkungen; seien diese nun technischer oder gesetzlicher Natur, durch besondere Bedürfnisse der Benutzer oder das knapp bemessene Budget des Auftraggebers bedingt. Erst die Beschränkung fordert Designer wirklich heraus. Erst durch sie wird Kreativität entfaltet.
Natürlich kann nicht „jeder“ ein Haus, ein Auto oder eben eine Website entwerfen und dem Entwurf entsprechend herstellen, aber die allernotwendigsten Voraussetzungen sind gering und relativ leicht erfüllt.
Was die sprichwörtliche Spreu vom Weizen trennt, ist die Antwort auf die Frage, ob jemand (freiwillig) in diesem Haus wohnen würde, ob dieses Auto eine Straßenzulassung bekäme oder wie viele Menschen diese Website sinnvoll (und mühelos) nutzen können.
Barrierefreiheit ist nicht „sexy“
Ich meine es war Christian Heilmann, der dereinst postulierte, wir müssten Barrierefreiheit „sexy“ machen. Ich gab ihm damals recht und leider hatte ich bislang noch keinen Grund, meine Meinung zu ändern.
Barrierefreiheit wird von einer breiten Öffentlichkeit immer noch nicht ernst genommen und allen Bemühungen zum Trotz haben wir es nicht geschafft, sie wenigstens „salonfähig“ zu machen.
Barrierefreiheit ist nach wie vor das vernachlässigte Kind, das mit hängendem Kopf im Hinterhof einen abgewetzten Ball gegen die Wand tritt. Es hat wenige Freunde und versteht nicht, wieso.
Das liegt nicht an etwaigen Schwierigkeiten oder Hürden die Designer bei der Umsetzung überwinden müssten. Es liegt auch nicht an zu knappen Budgets der Auftraggeber.
Beide sind beim Einsatz wertvoller Ressourcen wenig zimperlich, um einzelne Webauftritte in exotischen Ausgabegeräten (die statistisch eine Verbreitung von deutlich weniger als 1 % weltweit haben) möglichst identisch darzustellen.
Doch wenn es nur darum geht Verweise korrekt auszuzeichnen oder den Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund um das sprichwörtliche µ zu erhöhen, bricht jedes Mal die „Sinnkrise“ aus.
Die im Dunkeln sieht man nicht
Warum ist das wohl so? Um es mit Bertolt Brecht zu sagen, weil man die im Dunkeln nicht sieht. Tatsächlich ist es so, dass viele Barrieren nicht (oder nur unter bestimmten Bedingungen) offensichtlich sind. Das Bedürfnis nach Barrierefreiheit ist bei uns allen vorhanden, nur ist uns dies nicht zu jeder Zeit und unter allen Umständen bewusst.
Erst wenn wir selbst an einer Hürde scheitern wird uns klar, auch wir stehen im Dunkeln und wurden vom Entwickler übersehen und daher bei Entwurf und Umsetzung nicht berücksichtigt.
Natürlich können Menschen mit (amtlich anerkannter) Behinderung von Barrierefreiheit profitieren, aber niemand muss im klassischen Sinne behindert sein, um von Barrieren an der Ausübung eines (eigentlich) trivialen Vorgangs gehindert zu werden.
Lösen wir daher endlich diese unglückselige sprachliche und geistige Verknüpfung zwischen „Barrierefreiheit“ und „Behinderung“. Denn die landläufige Annahme, es gäbe einen exklusiven Zusammenhang, ist Unsinn. Barrierefreiheit ist kein Einzelnen zugestandener Luxus, sie ist ein allgemeines Grundbedürfnis. Dass wir uns nicht alle und jederzeit dieses Bedarfs bewusst sind, ändert daran nichts.
Niemand von uns wird mit jedem Tag jünger und agiler, und niemand von uns ist vor (unvorhersehbaren oder auch durchaus vermeidbaren) Unglücksfällen und daraus folgenden zeitlich begrenzten oder gar dauerhaften körperlichen, geistigen oder technischen Einschränkungen gefeit.
Ein Experiment: Punkt, Punkt, Strich
Wenn Sie mit diesem Ansatz überhaupt nicht einverstanden sind, oder vielleicht sogar glauben, Sie würde „das alles“ nicht betreffen, möchte ich Sie zu einem kurzen Experiment einladen. Keine Angst, sie müssen keine Höchstleistungen erbringen und es tut auch gar nicht weh (und selbstverständlich erfährt außer Ihnen niemand das Ergebnis).
Nehmen Sie ein Blatt Millimeterpapier (falls zur Hand) oder machen Sie sich auf einem leeren Blatt schnell einen entsprechenden Raster — eine etwa 10×10 Zentimeter große Fläche reicht vollkommen.
Nun nehmen Sie einen gespritzten Bleistift (oder einen Druckbleistift) und malen Sie eines der Felder am Rand des Blattes aus. Das wird Ihnen wahrscheinlich zufriedenstellend gelingen.
Im zweiten Durchgang nehmen Sie einen Filzstift oder sogenannten „Permanentmarker“ (Keil– oder Rundspitze; je größer, desto besser) und malen Sie eines der anderen Felder exakt aus (ohne dabei umliegende Felder einzufärben). Auch das wird Ihnen halbwegs zufriedenstellend gelingen, aber schon deutlich länger dauern.
Im dritten Durchgang nehmen Sie ein Stück Seife, bemalen ein Ende mit dem Permanentmarker und ziehen damit eine gerade Linie zwischen den beiden ausgemalten Feldern. Nehmen Sie sich ruhig Zeit, ich warte hier …
Fertig? Schön. Ob Sie wollten oder nicht, Sie haben soeben Ihren Horizont erweitert. Dieser Umstand alleine macht Sie schon zu einem besseren Designer — ganz unabhängig davon wie das Ergebnis letztlich ausgefallen ist, wie talentiert Sie eigentlich sind und wie erfahren Sie schon vor dem Experiment waren.
Für einen Techniker mit dem entsprechenden Werkzeug ist das Millimeterpapier gut „zugänglich“. Für jemanden, der vielleicht nicht so geübt ist, kein so scharfes Auge, keine so ruhige Hand oder einfach das „falsche“ Werkzeug hat, eher nicht. Und so verhält es sich leider auch oft mit Online–Dokumenten. Wir denken über mögliche Einschränkungen gar nicht nach, wenn sie uns (zufällig) nicht betreffen.
Manchmal bemerken wir zwar, dass wir uns „irgendwie schwertun“, erkennen aber nicht, dass wir tatsächlich „behindert“ werden. Beim oben erwähnten Millimeterpapier lässt sich daran kaum etwas ändern. Die Kästchen sind immer (ziemlich) genau einen Quadratmillimeter groß, egal wie gut wir sehen, wie ruhig unsere Hand ist oder wie stumpf unser Werkzeug.
Andernfalls könnten wir die Kästchen für unser Experiment so weit ausdehnen, dass auch die viel zu breite Spitze des Permanentmarkers darin Platz findet, und sogar eine exakte Linie mit dem bemalten Seifenstück zu ziehen, bequem möglich wäre.
Keine Erwartungen, keine Enttäuschungen
Wenn Sie davon ausgehen, dass alle zukünftigen Besucher Ihrer Website „entsprechend“ gerüstet sein werden, um diese im Sinne Ihres Entwurfs zu nutzen, dann können Sie nicht von dieser Welt sein.
Ich kenne beispielsweise niemanden, der ein kalibriertes Grafiktablett benutzt und kein Designer ist. Die überwiegende Mehrheit benutzt eine Maus, ein sogenanntes „Touchpad“ oder eben den Finger als Zeigegerät.
Dafür kenne ich aber einige Benutzer, die sich vorzugsweise der Tastatur bedienen (und nicht als behindert gelten). Erst wenn ich darüber nachdenke (wie in diesem Moment), fällt mir auf, dass ich selbst auch zu dieser Gruppe gehöre.
Der erzwungene Griff zum Stift (von der Maus will ich gar nicht erst erzählen) ist mir zuweilen lästig und meine Tastatur … nun, es wird Zeit, dass endlich Geräte mit Ersatztasten auf den Markt kommen.
Ja, ich habe ein unglaubliches Fingerspitzengefühl, keine motorischen Einschränkungen und bin auch nicht blind, aber kein Zeigegerät dieser Welt — zumal, wenn dieses nur „Klick“ kann — schlägt die Tastatur in puncto Geschwindigkeit und Effizienz (wenn man halbwegs damit umzugehen weiß) — es sei denn, bestimmte Webauftritte unterbinden deren Funktionalität durch unnötige „Optimierungen“.
Der „Normalfall“ ist die erhoffte Schnittmenge aller Sonderfälle
So etwas wie den „Normalfall“ gibt es eigentlich gar nicht. Falls überhaupt, gibt es eine „gefühlte“ Mehrheit. Doch auch diese ist unglaublich relativ. Wir Menschen sind kompliziert und jeder Tag ist anders. Der einzige vielversprechende Ansatz ist daher, den „größten gemeinsamen Nenner“ zu finden.
Übrigens: Suchen Sie nicht den landläufig (meist fälschlich) zitierten „kleinsten gemeinsamen Nenner“. Das wäre mathematischer (und sprachlicher) Unsinn. Sie wollen Ihre Website möglichst vielen Menschen zugänglich machen — andernfalls bräuchten Sie diese nicht erst zu veröffentlichen.
Paradoxerweise sind — wohl gerade, weil wir Menschen und unsere Herangehensweisen zu unterschiedlich sind — die „Modellbenutzer“ für den „Normalfall“ keine menschlichen Besucher. Um die Zugänglichkeit einer Website am ehesten zu gewährleisten, wäre es durchaus sinnvoll, sich an Bots (besonders den Google Bots) zu orientieren. Denn diese besuchen wesentlich mehr (unterschiedliche) Seiten als jeder einzelne Benutzer weltweit und decken gleichzeitig die größtmögliche Schnittmenge an Sonderfällen ab:
- Sie können unsere Seiten nicht sehen
- Sie können diese nicht hören
- Sie verwenden keine Maus (oder ein anderes Zeigegerät)
- Sie können nicht sinnerfassend lesen
- Sie verstehen die vermeintlich einfachsten Zusammenhänge nicht
Mit anderen Worten, sie scheitern an (fast) allen denkbaren Barrieren. Unglücklicherweise können sie auch keine Beschwerde–Mails an die Seitenbetreiber verschicken. Daran könnte Google tatsächlich noch arbeiten. Das wäre hilfreich.
Zugänglichkeit als Strategie und Taktik
Doch sollten wir unsere Seiten nicht eigentlich für die Menschen da draußen entwerfen? Natürlich sollten wir das. Doch wir tun es auch, wenn wir uns an Bots orientieren. Je besser diese Zugang zu den angebotenen Inhalten haben, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Seiten vernünftig bewertet und indiziert werden. Dies wiederum verbessert die Suchergebnisse für menschliche Benutzer (zumindest theoretisch).
Stellen Sie sich vor, Seitenbetreiber bekämen nach dem Besuch eines Bots folgende E–Mail:
Wie lange würde es wohl dauern, bis alle Online–Dokumente für menschliche Benutzer zugänglich wären, wenn Bots alle Auftritte die Barrieren enthalten (mindestens) bis zu ihrem nächsten Besuch aus den Suchergebnissen entfernten?
Logischerweise würde damit auch die Gesamtqualität des Online–Angebots steigen, denn mit jeder Verbesserung der Zugänglichkeit würde automatisch der Inhalt einzelner Auftritte (und damit zwangsläufig auch die Suchergebnisse) für eine größere Besucherzahl relevant. Und Barrierefreiheit würde ganz schnell unglaublich „sexy“ werden.